Heute bekam ich überraschend Besuch von meiner alten
Freundin, der Traurigkeit. Langsam , fast zögerlich hatte
sie an die Tür geklopft und ich habe sie einer alten
Gewohnheit folgend, hereingebeten. Sie schien verwirrt. Wir
hatten uns länger nicht gesehen und vielleicht auch spürte
sie ein gewisses Zögern in
der Geste, mit der ich sie hereinbat. Wir musterten
einander. Sie schien mir irgendwie kleiner zu sein, als die
letzten Male, doch intensiver, tiefgründiger .
Sie musterte mich ebenfalls, fast ein bisschen
anklagend, so , als ob ich vergessen hätte, sie einzuladen.
Na ja, sie war kein sehr angenehmer Gast. Schon nach wenigen
Minuten ihrer Anwesenheit, verdunkelt sich mein Horizont und
die Perspektive ändert sich schlagartig...Alles was vorher
noch schön schien und leicht, scheint plötzlich ungeheuer
schwer und traurig eben. Gott sei Dank hatte sie heute ihre
Kusinen das Mitleid und das Selbstmitleid nicht mitgebracht.
Offensichtlich hatten sie bei ihrem letzten Besuch
verstanden, dass sie in meinem Haus nicht mehr willkommen
waren...Nun ja, da standen also die Traurigkeit und ich und
musterten einander. Ich kannte sie in all ihren
Aggregatzuständen. Manchmal erschien sie luftig, irgendwie
im Raum schwebend , manchmal eher wässrig und in Strömen aus
meinen Augen fliessend und manchmal erstarrte sie und ich
spürte sie wie einen Stein in meiner Herzgegend. Sie aber
kannte meine Gründlichkeit. Ich hatte im Umgang mit ihr
alchimistische Fähigkeiten entwickelt, da ich seit unserer
ersten bewussten Begegnung beseelt war sie zu verwandeln.
Aus dem Eis, das ich als Stein fühlte machte ich Wasser .
Das Wasser verwandelte ich in schöne Kristalle, die ich dann
irgendwo in der Anderswelt zu Schmuckstücken werden
liess. Heute stand sie mir in ihrer wässrigen Form gegenüber
und fast war ich dankbar, dass sie sich nicht als Stein
zeigte..Ich liess sie also fliessen, hörte ihr auch
aufmerksam zu und ich muss zugeben, ihre Geschichten sind
unschlagbar. So viel Liebe, soviel Sehnen, soviel
Enttäuschung, soviel Einsamkeit, Verlust, soviel Schmerz
allein in einer einzigen Geschichte brächten jedes Auge zu
weinen. Doch sie wusste viele Geschichten und eine war
trauriger als die andere. Ich hatte es vor langer Zeit
aufgegeben mit ihr zu argumentieren..Meistens hörte ich ihr
eine Zeitlang zu, nahm sie sanft in meine Arme, streichelte
sie und wartete , bis sie sich beruhigt hatte, Oft hegte ich
den Verdacht, dass es ihr ja nur darum ging, gesehen zu
werden, geachtet und geehrt. Anfangs hatte ich noch versucht
sie zum Lachen zu bringen, weil mir ihr Zustand einfach zu
traurig erschien , aber bald gab ich es auf und akzeptierte
,dass die Traurigkeit einfach traurig ist und gesehen
werden will, angenommen und geliebt, als das was sie ist.Und
so geschah es auch heute . Sie weinte ein bisschen, liess
sich aber willig in die Arme nehmen ( was keine
Selbstverständlichkeit war, vorallem wenn sie mit ihrer
kleinen Schwester Trotz vorbeikam), erzählte mir dieses und
jenes und brach dann abrupt ab. Mit grossen Augen schaute
sie mich an. "Warum wehrst du dich heute nicht gegen mich ?
" fragte sie. Diese Frage brachte mich in Verlegenheit. Wie
konnte ich ihr sagen, dass ich herausgefunden hatte, dass
sie schneller wieder ging, je weniger ich mich gegen sie
wehrte. Also sagte ich : " Nun du bist einfach, was du bist
" Ihre Augen wurden noch grösser und ihre bleichen Wangen
bekamen einen rosanen Schimmer..." Und du meinst, du magst
mich trotzdem?" flüsterte sie. Ich nickte, denn irgendwie
mochte ich sie, hatten wir doch Jahre miteinander verbracht.
Und das erste Mal, in der langen Zeit , da ich sie kannte ,
hatte ich das Gefühl, dass sie sich freute und plötzlich
hatte sie es sehr eilig mein Haus zu verlassen..Sie murmelte
etwas von " Jetzt muss ich aber nach Hause" und ein
sonnendurchfluteter Ort tauchte blitzartig vor meinem
inneren Auge auf....Doch als ich sie verabschieden wollte,
war sie schon weg..wer weiss wohin sie gegangen ist, wer
weiss schon ,ob sie wiederkommt ?
( Lile an Eden)